Dieser Newsletter heißt bekanntlich „Internet Observatorium“. Irgendwie ein Anachronismus: Denn die interessantesten Beobachtungen finden sich dort, wo „das Internet“ in die physische Welt (Meatspace) diffundiert. So stark, dass sich das Wesen des jeweiligen Bereichs völlig verändert. Und gleichzeitig auch „Internet“ oder „Digital-Infrastruktur“ so sehr untrennbarer Teil dieses Bereichs sind, dass sie als Begriffe überhaupt nichts Spezielles mehr markieren.

Das, was wir bislang als Nachbarschaft kannten, ist einer dieser neuen Orte. Nicht, dass Nachbarschaft zuvor ein unveränderliches Konzept war. So schrieb Brian Eno 1978 in seinem Essay “The Big Here, Long Now” von seinem Erstaunen, als er zum ersten Mal eine Dinnerparty in New York besucht und er die reiche Gastgeberin fragt: 

“Wie gefällt es ihnen hier?” –

“Die beste Wohnung, in der ich je gelebt habe!” 

”Aber ist es eine interessante Nachbarschaft?” –

“Oh, die Nachbarschaft? Die ist da draußen.”

Die Nachbarschaft ist ”da draußen” – diese Feststellung kam uns schon vor den Corona-Lockdown bekannt vor. Innen und außen werden in unseren Zivilisationen ja ständig umdefiniert. 

So stellte der Medienwissenschaftler Ian Bogust zu Beginn der Corona-Krise fest: “Noch nie in unserer Geschichte konnten wir so viel unternehmen, ohne überhaupt das Haus zu verlassen.” Und merkte gleichzeitig an, dass sich sein Leben eigentlich durch die Isolation nur marginal geändert habe. Die Quarantäne war bereits Lifestyle.

Das Portal für Entertainment (Streaming), Fitness (YouTube-Videos), Kontakte (soziale Medien), serviertes Essen (Lieferando et al) ist zwar überall erreichbar, aber in der praktischen Nutzung oft in den eigenen vier Wänden verankert. Arbeit kam als Portal-Funktion – für diejenigen mit den entsprechend privilegierten Jobs – noch als Nutzungsszenario dazu. 

Die Digitalisierung hat die eigenen vier Wände also satt mit Funktionen ausgestattet. Die Funktion der Nachbarschaft dagegen hat sie beinahe auf ein rein technisches Element reduziert

Communitys wie Nextdoor oder Nebenan.de haben sich zwar in der Pandemie teilweise als nützlich erwiesen; im Kern aber sind die Interaktionen dort transaktionaler Natur. Das frühere Marketing-Versprechen von Airbnb, über bezahltes Couchsurfing Teil einer lokalen Community zu werden, hat sich nicht erfüllt. Im Gegenteil: Das perfekte Airbnb-Erlebnis dürfte darin bestehen, möglichst wenig mit den Nachbarn zu tun zu haben, während man die Nachbarschaft als authentische Urlaubskulisse nutzen kann.

In den USA wiederum hat die Amazon-Türkamera Ring der physischen Nachbarschaft ein soziales Überwachungs- und Sicherheitsnetzwerk übergeworfen, das inzwischen längst eine ergiebige Quelle für Polizei-Ermittlungen ist.

Eine völlig technische “Nachbarschaftshilfe”, also die Extremform dieses Verständnisses, liefert “Amazon Sidewalk”, eine Produktfunktion, die der Konzern in wenigen Tagen aktivieren wird. Konkret handelt es sich um ein Mesh-Netzwerk, das einen kleinen Teil der Wlan-Bandbreite (80kbps) von Nachbarn mit Amazon-Geräten nutzt. 

Das Nutzungsszenario: Wenn zum Beispiel der eigene Amazon Echo offline ist, kann er bis zur Reparatur der Wlan-Verbindung Grundfunktionen über das Nachbar-Signal abwickeln, bleibt also online.

Vor längerer Zeit bilanzierte der Digital-Designer Chenoe Hart einmal, dass ”Zuhause” für Amazon nur ein weiterer Logistik-Knoten sei. “Sidewalk” passt natürlich in diese Logik, muss aber nicht das Ende sein. 

Nachbarschaft als Logistik-Knoten

So stellte Hart die These auf, dass Lieferroboter physische Güter einmal (fast) so verschiebbar wie digitale Dateien machen könnten. Dies würde auch Geschäfte untereinander erleichtern, eine lokale Art Leih- und Weiterverkaufs-Ökonomie ermöglichen – also aus Amazon-Sicht einen Ausbau der Marketplace-Funktion. Hart:

Just as Airbnb was launched with the initial promise (if not always the lasting result) of transforming underutilized apartments and homes into decentralized competition for hotel rooms, a robot delivery system could turn every home effectively into a warehouse of objects offered for rent or sale.

Solche Szenarien erscheinen noch gewagt, völlig unrealistisch sind sie nicht. Vor allem tragen sie einigen Trends Rechnung:

  1. Dem Wunsch nach Reibungslosigkeit (Frictionlessness) 
  2. Dem (von Tech-Firmen vorangetriebene) Trend, Dinge zu abonnieren statt zu besitzen
  3. Dem wachsenden Bewusstsein, dass ein Neukauf für einmalige Verwendung ökologisch unklug ist
  4. Dem transaktionalen Charakter, der inzwischen viele Teile unserer zwischenmenschlichen Interaktionen bestimmt (Tinder, Social Media als Clout-Wettbewerb, Kommerzialisierung von Personenmitnahme und Privaträumen etc.)

Ob diese Form von Nachbarschaft eine Dystopie ist, mag jeder selber urteilen. Der transaktionale Faktor war immer schon ein Bestandteil nachbarschaftlichen Beziehungen; der soziale Teil ergab sich (und ergibt sich vielerorts weiterhin) aus fehlenden Alternativen und dem Bewusstsein, dass ein möglichst konfliktfreies Verhältnis zu Nachbarn sinnvoll ist. 

Diese quasi-erzwungene Interaktion hielt allerdings häufig Serendipität bereit: Menschen, die nicht wie wir sind und die wir trotz unterschiedlicher Lebensentwürfe und -haltungen schätzen lernen. Diese zwischenmenschlichen Entdeckungen finden weiterhin statt. Aber deutlich weniger, würde ich prognostizieren. Auf die gesellschaftlichen Folgen einzugehen, würde hier den Rahmen sprengen.

In eine Digitalfunktion werden diese Entdeckungen nicht gegossen werden. Seiten wie Nebenan.de, in denen das theoretisch angelegt war, haben sich in der Praxis als organisatorische Communitys entpuppt. Nicht nur das gegenwärtige Softwaredesign verfolgt das Ziel möglichst großer Reibungslosigkeit und Effizienz, sondern auch der gegenwärtige Mensch (in den westlichen Industrienationen zumindest).

Und wie so oft in unserer vernetzten Welt lassen sich hier Ursache und Wirkung nicht seriös trennen.

Foto: Daniel Ulrich, Flickr (CC BY-SA 2.0)