Der Ursprung des Ausdrucks “Fake News” ist heute fast vergessen. Denn der Urheber war eben nicht Donald Trump. Nach der US-Wahl 2016 waren es traditionelle Medien, die damit die Mobilisierung der Trump-Wähler durch irreführende (Facebook-)Meldungen meinten. Damals warnte John W. Herrman:

“This wide formulation of “fake news” will be applied back to the traditional news media, which does not yet understand how threatened its ability is to declare things true, even when they are.”

So kam es. “Fake News” wurde zum Schlachtruf der Trump-Bewegung und darüber hinaus. Anlässlich einer Verhaftung von malaysischen Aktivisten wegen “Fake News” habe ich 2018 mal versucht, die unterschiedlichen Funktionen des Begriffs zu definieren:

(1) Identifikation von Falschnachrichten/Falschinformationen

(2) Signalwort an das Publikum/die Anhängerschaft, bestimmte Informationen zu ignorieren

(3) Politischer Vorwand, um Zensurgesetze zu verabschieden

Sam Gregory von der Organisation Witness warnt nun vor etwas Ähnlichem in der DeepFake-Debatte: Politische DeepFakes gibt es bislang kaum. Vielmehr wurde die Technologie für Mobbing – vorwiegend im Kontext Porno-Montagen – eingesetzt. Dennoch ist die Technik in der Welt und bietet autoritären Regierungen die Möglichkeit, echtes Augenzeugen-Material als falsch zu diskreditieren

Gregory erklärt, wie Akteure aus Journalismus und Aktivismus in Myanmar ihre Sorge beschreiben, dass sie eben nicht nur falsche Gerüchte zerstreuen müssen (also “Fake News”), sondern immer stärker damit beschäftigt sein werden, die Echtheit echten Materials zu beweisen, um es gegen „Fake-News“-Vorwürfe der Obrigkeiten zu verteidigen.   

Ich bin kein Anhänger von Russland-Verschwörungen und sehe deshalb den Putin-Berater und ehemaligen Theatermenschen Wladislaw Surkow nicht als “Mastermind”. Aber seine Idee des “Theaters ideologischer Konfusion” ist weiterhin hilfreich, um das Leben in einer solchen Welt zu beschreiben. Am Tag vor der US-Wahl 2016 hatte ich das Thema einmal angerissen:

“Im Falle von Surkow war dieses Theater häufig profan  – er unterstützte zum Beispiel Neonazi-, aber auch Anti-Neonazi-Gruppen finanziell, niemand wusste, wo der Staat seine Hände gerade im Spiel hat. Der Einzelne fühlt sich so in einer „falschen Welt“ gefangen, in der alles unscharf ist und hinter jeder Tür eine weitere wartet.”

In dieser Welt des Zweifels, in dieser Realitätskrise leben immer mehr Menschen. Elizabeth Seger vom Leverhulme Centre for the Future of Intelligence fordert deshalb, Themen wie “nationale Sicherheit” oder “Cybersicherheit” auch die “epistemische Sicherheit” gleichberechtigt zur Seite zu stellen. Denn wenn wir uns nicht auf grundsätzliche Fakten einigen können, können wir uns auch nicht darüber einigen, wie eine gemeinsame Zukunft aussehen kann. Und mit Fakten ist hier tatsächlich gemeint: Etwas ist passiert oder nicht.

Gegenmaßnahmen zu finden, ist komplex. Kevin Roose fordert die Biden-Regierung zum Beispiel auf, einen “Realitäts-Zar” einzuführen. Was ziemlich nach Wahrheitsministerium klingt. Auch andere institutionelle Lösungen – zum Beispiel eine Bundeszentrale für digitale Aufklärung – würden womöglich sehr schnell unter Verdacht stehen, Regierungshaltungen zu propagieren. Und wie beim NetzDG würden autoritäre Regierungen ihre eigenen Versionen solcher “Vorbilder” umsetzen. 

Selbst die Idee, bei Jugendlichen ein “Mehr an kritischem Denken” zu fördern, hat sich als Irrtum herausgestellt, wie Mike Caulden jüngst anmerkte.Mike Caulfield @holdenSam and I said the opposite. Critical thinking, as taught in models like CRAAP and RADCAB, was making students worse. „Spotting misinformation“ created dangerous assumptions that the clues were in the artifact in front of you.February 14th 202112 Retweets79 Likes

Vielversprechender ist es offenbar, die Aufmerksamkeit besser zu balancieren, um Quellen schneller einschätzen zu können und sie im Zweifelsfall einfach hinter sich zu lassen.

Die Verteidigung der Restrealität ist eine Jahrhundertaufgabe, befürchte ich. Der Online-Kulturkampf zeigt, wie auch vernünftige Menschen Fakten nur dann heranziehen, wenn sie der Verteidigung der eigenen Weltsicht und des eigenen Stammes dienen. 

Realität entsteht ebenso vernetzt wie die Hierarchie, die über ihre Deutung bestimmt (siehe Ausgabe #01). Die frühe Hoffnung des Webs, das dies ein demokratisierendes Element wird, hat sich insofern erfüllt, als Deutungshoheit tatsächlich von „vielen“ statt von „wenigen“ ausgeht. Aber es handelt sich nicht um einen deliberativen Prozess

Die verhaltenspsychologische Optimierung der Plattformen, die Messbarkeit von Status, die Verfeinerung von Verhalten und Inhalt im Sinne von Datenbank-Mechaniken wie Viralität haben eine gigantische menschlich-maschinelle Dynamik ausgelöst. Sie sich mit Hilfe der richtigen Instrumente zunutze zu machen, verspricht eine Macht über die Wahrnehmung, die eher an Sektenführer als an die Sowjetunion erinnert.