Ich singe die Songs des Internet-Radios,
dessen Stream nicht aufgerufen wird.
Ich bin das Dating-Profil mit null Besuchen.
Die fantastische Neuigkeit aus dem Clubhouse-Monolog,
dem niemand zuhört.
Ich klatsche mit einer Hand und warte auf das Geräusch.
Gestern schrieb Drew Austin in seinem Newsletter:
“Der physische Raum ist derzeit ein Vektor für Krankheiten. Unser Zugang zu ihm bleibt beschränkt, und das grenzenlose Internet mit seinen niedrigen Transaktionskosten, einer Viralität (der anderen Art) und der Möglichkeit eines exponentiellen Resonanzraums hat echte Vorteile. Selbst wenn das alles nur ein Casino ist, bei dem eine Minderheit den Jackpot gewinnen kann, während alle anderen sich an den Spielautomaten abmühen, ist das im Moment immer noch verführerischer als alles andere.”
Wir leben ein digitalintegriertes Leben. Und sieht man von der physischen Bewegungsbegrenzung ab, fühlt sich dieses Leben eher nach neuer Normalität als nach einer Ausnahmesituation an, aus der wir irgendwann in den Status Quo zurückkehren.
Die in den vergangenen Jahren entstandenen vernetzten Massengesellschaften und ihr Unbehagen werden in der Regel auf den sichtbaren Teil ihrer Struktur untersucht: Die Nebenwirkungen, Feedback-Schleifen und Meatspace-Übertragungseffekte algorithmisierter Vernetzung. Eher unbeachtet bleibt der weitaus größere, aber unsichtbare Teil dieses Raumes: Jene Punkte in dieser Struktur, die nicht vernetzt sind.
Oder, um es in messbarer Währung auszudrücken: Jener Teil, der zwar existiert und sich in den Datenbanken abbildet, dem aber die Aufmerksamkeitsökonomie keinen Wert zuweist, weil er schlicht nicht wahrgenommen wird.
Paradoxerweise wächst dieser Teil, je mehr Menschen online sind und je mehr Content sie dort produzieren. Chris Andersons Theorie vom Longtail aus dem Jahr 2004 besagt, dass die Digitalisierung es ermöglicht, dass sich noch in der kleinsten Nische Angebote und Zielgruppe finden. 2018 habe ich unter dem Titel “Longtail, das sind wir alle” etwas zur Entwicklung der Aufmerksamkeit im gegenwärtigen Setting geschrieben:“In einer Welt quasi unendlichen und unendlich weiter wachsenden Contents wandert fast zwangsläufig so gut wie alles in den Longtail, und zwar immer näher in Richtung Unsichtbarkeit (siehe die Twitch-Gamer ohne Publikum) und Nullumsatz.
Im Gegenzug können die ”Powerseller von Aufmerksamkeit” an der Spitze stabile bis steigende Preise für ihre Ware erwarten, arbeiten allerdings – wenn sie nicht gerade ein bestimmtes Marken- oder Promi-Level erreicht haben – immer dagegen an, vom nächsten Meme verdrängt zu werden.”
Diese Unsichtbarkeit ist für viele Menschen in Social Media Realität, denn sie ist für sie messbar. Keine Views, keine Streams, keine Likes, keine Downloads, keine Interaktion. Oder auch: Eine Handvoll Views und Streams, aber keine hinterlassenen Reaktionen. Oder auch: Ein einziges Like, und das von den Eltern.
Kein Publikum zu haben, sondern nur vor dem Barkeeper gespielt zu haben, ist für eine Band eine nette Anekdote (und ich könnte viele davon erzählen). Aber im Digitalen ist es ein Verschwinden, eine spezielle Art der Nicht-Existenz. Oder, wie Drew Austin ebenfalls anmerkt:
“Die physische Welt kann Leere und Stille vertragen, oder zumindest ihre Existenz anerkennen. Online werden diese Lücken einfach nur mit dem Content anderer Leute gefüllt und verschwinden entsprechend sofort.”
Der Stream, nach dem der dem Menschen zugewandte Teil des Internets organisiert ist, kennt keine Pausen, keine Leerstellen, keine Hindernisse und kein Ende. Und gleichzeitig wird es immer wichtiger, in ihm vorzukommen, sichtbar zu sein.
Wie das unser Verhalten prägt, erklärt die Metapher des Theaters.
Der Soziologe Erving Goffman verglich unser Sozialleben einst mit einer Theaterbühne. Wir stehen auf einer Bühne und sind damit beschäftigt, einen Eindruck zu hinterlassen, der unserem Wunschbild entspricht. Aber, wie L.M. Sacasas festgestellt hat: Goffman ging davon aus, dass es hinter der Bühne auch ein Backstage gibt, wo wir unsere Deckung aufgeben.
Doch Social Media erweitert die Bühne selbst, entzieht ihr einen konkreten Punkt, an dem wir “dahinter” treten könnten. Sacasas:
“Das Publikum ist immer bei uns, verlangt immer neues Material, regt uns an, aus unserem Leben Material zu machen. Diejenigen, die den Anschein erwecken, ein Publikum in die Intimität des Backstage-Bereichs einzuladen, scheinen in der Tat oft am geschicktesten darin zu sein, soziale Medien zu nutzen (…). Aber was sie wirklich vollbracht haben, ist es die Kunst zu beherrschen, den Backstage-Bereich in eine weitere Bühne zu verwandeln.”
“Das Publikum ist immer bei uns” – diese Aussage trifft selbst dann zu, wenn wir gar kein Publikum finden. Aber was bedeutet es, kein Publikum zu finden?
Ich bin nicht authentisch, interessant genug. Mein Leben liefert kein gutes Material, könnte eine Antwort sein. Das sind Antworten, die am Selbstbild nagt. Fehlende Wahrnehmung wird so zum persönlichen Problem, Isolation symbolisiert ein selbstverschuldetes Scheitern.
Die Antwort könnte aber auch lauten: Andere sind besser darin, ihr Verhalten auf die Datenbank-Mechanik abzustimmen, die andere zum Gucken, Liken, Teilen und schließlich auch die Software dazu bringt, uns im Fluss der Aufmerksamkeit für kurze Zeit an die Oberfläche zu spülen. Aber würde diese Erkenntnis etwas an Isolation und Einsamkeit ändern?
“Einsamkeit ist keine Epidemie, sie ist eine Hungersnot”, hat Claire Bushey vor kurzem in einem bemerkenswerten Essay geschrieben. Menschen sind keine ungespielten Streams, die auf den Spotify-Servern vergeblich darauf warten, entdeckt zu werden. Oder, um Hannah Arendt aus “Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ zu zitieren:
“Verlassenheit entsteht, wenn aus gleich welchen personalen Gründen ein Mensch aus dieser Welt hinausgestoßen wird, oder wenn aus gleich welchen geschichtlich-politischen Gründen diese gemeinsam bewohnte Welt auseinander bricht und die miteinander verbundenen Menschen plötzlich auf sich selbst zurückwirft. In der Verlassenheit sind Menschen wirklich allein, nämlich verlassen nicht nur von anderen Menschen und der Welt, sondern auch von dem Selbst, das zugleich jedermann in der Einsamkeit sein kann. So sind sie unfähig, den Zwiespalt der Einsamkeit zu realisieren, und unfähig, die eigene, von den anderen nicht mehr bestätigte Identität mit sich selbst aufrechtzuerhalten. In dieser Verlassenheit gehen Selbst und Welt, und das heißt echte Denkfähigkeit und echte Erfahrungsfähigkeit, zugleich zugrunde”