Ich kann euch/ihnen allen nur empfehlen, die Zeit bis zum 20. Januar möglichst wenig Social Media zu konsumieren. Denn es wird dort noch einige Achterbahn-Loopings geben, bis Joe Biden sein Amt antritt.

Es scheint deutlich, dass sich für die Zeit danach gerade eine neuartige Struktur herausbildet. Die nächste Stufe der reaktionären Parallel-Realität; Vox nennt es die “Autokratie-im-Exil”, also eine politische Bewegung, Trump weiterhin als rechtmäßigen Präsidenten sieht. Vielleicht gebündelt über ein Trump‘sches Medienunternehmen, wie Casey Newton mutmaßt und auch der 45. US-Präsident selbst intern andeutet. Vielleicht liefert Trump auch nur den Content, seine Anhänger bevölkern ja bereits die digitalen Verteil-Netzwerke, speziell Social Media.

Was heißt das? Aus der Vogelperspektive betrachtet: Wie Deutungshoheit entsteht, entwickelt sich weiterhin weg von den Mechanismen des späten 20. Jahrhunderts (Institutionen, lineare Medien). Hierarchie ist nicht überflüssig geworden, sondern sie entsteht vielmehr vernetzt. Genauer gesagt erleben wir die “Memefizierung der Welt”. Ideen, Verhalten und Stile werden zu Kultur(über)trägern. Und damit politisch auch zu einem Machtfaktor. 

Wenn wir auf digitale Kommunikation blicken, nehmen wir dabei oft nur das Echtzeit-Element wahr, also die völlig Fixiertheit auf das, was gerade passiert (hi, Twitter!). Dabei unterschätzen wir die Rolle der VergangenheitDenn jede/r kann sich im fast unendlichen digitalen Archiv bedienen, daraus Weltsichten und Welterklärungen ableiten – und diese und auf dem vernetzten Markt der Öffentlichkeit platzieren (und durch Manipulation von Datenbank-Dynamiken verstärken). Eine neue Geisteslandschaft schaffen, “Total Landscaping” sozusagen.

Konkurrenz der Vergangenheiten

Nebenaspekte können zu wichtigen Ereignissen erklärt werden (bis hin zu einer Pizza-Erwähnung, die zu Pizzagate wurde, das wiederum in QAnon mündete), neue Verbindungslinien zur Gegenwart werden gezogen, aber auch gängige Erkenntnisse/Verhaltensweisen/Institutionen in Zweifel gezogen. Das alles ist nicht nur verschwörerisch, die Bandbreite reicht von “die USA erklärten ihre Unabhängigkeit, um die Sklaverei zu bewahren“ (New York Times 1619 Project) bis “Corona gibt es nicht”.

Im Falle des angeblichen Trump-Wahlsiegs werden mit dem entsprechenden Input kollektiv “Fakten” geschaffen, die objektiv keine sind. Eine Vergangenheit, auf die sich in den nächsten Jahren aufbauen lässt.

Der “Kampf um die Vergangenheit” war schon immer ein zentraler politischer Konflikt – und wenn wir uns die Kulturkämpfe der Gegenwart angucken, geht es dort eigentlich fast ausschließlich darum, wie wir Vergangenheit interpretieren. Doch im 21. Jahrhundert gibt es immer weniger Instanzen, die im Zusammenspiel (oder Konflikt miteinander) die Zahl der diskutierbaren Vergangenheiten eingrenzen.

Im vernetzten Zeitalter konkurrieren deshalb unzählige, mit unterschiedlichem Realitätsbezug ausgestattete Vergangenheiten miteinander bzw. um Follower. Entsprechend kann daraus keine gemeinsame Zukunftsidee entstehen. Was wiederum nahe legt, dass unsere Zukunft sehr chaotisch und unübersichtlich wird.

Um die Vogelperspektive zu verlassen und ein Fazit zu ziehen: Die US-Politik wird lateinamerikanischer – gespalten, operettenhaft, unstet, stagnierend und mit ständigen Versuchen, das System zu biegen. Zugleich treten aber in ihr bereits Konturen einer (mir fällt gerade kein besseres Wort ein) Cyberzivilisation zutage. Sie stellt übrigens das Filterblasen-Thema vom Kopf auf die Füße: Filterblasen sind nicht etwas, in das Plattformen und “Algorithmen” uns einzwängen. Nein: die Menschen suchen sie.